Ein Streifzug durch die Stadt soll es werden, die Geschichten sollen ja auf der Straße liegen, so hört man. Weit kommt er jedoch nicht, der Schreiber. Die nächstbeste erste Gelegenheit bietet sich schon nach weniger Metern an. Also nimmt er Platz, bestellt ein Getränk und schaut sich das Treiben auf dem Gehweg und der breiten, vielbefahrenen Straße erstmal an.
Das ist schon eine gewaltige Umstellung, hatte er doch in den Wochen zuvor Landleben genossen und die mehr oder weniger ereignislose Gegenwart auf sich einwirken lassen, dem Gras beim Wachsen zugeschaut oder die durchaus verschiedenen Aggregatzustände von Regen mal wieder näher betrachtet.
Nun aber ist es trocken, ein leichter Wind weht, lockere Bewölkung hängt am Himmel ab, hin und wieder bricht die Sonne hindurch, es sind angenehme Temperaturen und im Hintergrund rauscht das Grundrauschen der Stadt. Verkehrslärm. Unablässig. Einzelne Motorradfahrer suchen offenbar die Belastungsspitze – sowohl ihrer Maschine als auch den Nerven der Anwohner. Gelbe Busse schleichen von Haltestelle zu Haltestelle, Paketzusteller parken alle paar Hundert Meter in zweiter, manchmal dritter Reihe. LKW donnern vorbei. Radfahrerinnen und Radfahrer mühen sich auf dem schmalen Grat ab, der ihnen zwischen parkenden Autos aller Größen und dem breiteren Gehweg zugewiesen ist. Schmal und holprig und wenig gepflegt ist dieser 80 Zentimeter enge Streifen auch ein Hinweis für die Wertschätzung, die dem umwelt- und menschenfreundlichen Radverkehr von der Stadt entgegengebracht wird. Zwei Bäume auf dem Mittelstreifen haben den letzten Sturm nicht überlebt, die Äste sind gerade soweit gekürzt, damit sie nicht auf die Fahrbahn ragen und den Autoverkehr nicht stören. Da werden Prioritäten gesetzt. Von wem für wen?
Unter dem Straßenpflaster rumpelt die U-Bahn, auf dem Gehwegpflaster läuft eine vielfältig durchwachsene Mischung vorbei. Polnische und vietnamesische Töne sind zu hören, auch serbische, kroatische, indische. Die farbenfrohe Kleidung von Frauen und Männern der afrikanischen Community fällt auf und setzt optische Highlights. Komplett tätowierte junge Frauen rollen hastig mit ihren Skateboards vorbei.
Zwei junge Männer - weiße Hemden, Namensschild, schwarze Hose, Rucksäcke - gehen vorbei. Man sieht sie hin und wieder. Vertreter oder Botschafter irgendeiner christlichen Sekte. Sie werden wohl eher wenig Erfolg haben hier in dieser Gegend, Siemensstadt, Stadtteil im nordwestlichen Berlin. Die wenigen, kleinen christlichen Gemeinden scheinen eher stabil, ein großer Teil der Einwohner ist vermutlich wie üblich in Berlin konfessionslos. Der Rest aber lässt sich an den Beschriftungen der Shisha-Bars, Köfte-Läden, Baklava-Cafes, Dönerbuden ablesen. Gefühlt 75-80 Prozent sind in türkisch-arabischer Hand – und somit eher muslimisch orientiert. Welche Untergruppe da vorherrscht, bleibt unklar. Das steht ja auch nicht dran. Allerdings scheint die Mitgliedschaft in dieser Richtung einer Religionszugehörigkeit eher zu wachsen, denn die Zahl der Kopftuchmütter, - tanten, und -mädchen scheint (gefühlt) exponentiell zuzunehmen. Man mag sich täuschen, aber sie fallen auf, manche vollverkleidet, viele schwarz, dunkelgrün oder dunkelgrau. Was bringt ihnen (den missionierenden Männern und den verhüllten Frauen) das?
Männer mit Plastiktüten in der einen Hand und Bierflaschen in der anderen Hand schlendern vorüber. Rauchende, trinkende, schimpfende Passanten. Schwarze Hoodies, schwarze Kappen, schwarze Jogginghosen.
Doch die Sonne scheint, das leise Lüftchen weht. Kinder tragen Teddybären und schlecken Eis. Angebliche Erwachsene tragen Smartphones wie Trophäen vor sich her, in den Ohren leuchten weiße Ohrstöpsel, die Menschen reden. Es sieht aus, als ob sie Selbstgespräche führen, doch wahrscheinlich telefonieren sie. Noch nie, noch nie in der Menschheitsgeschichte wurde so viel geredet, gesprochen, erklärt, bewundert, befürchtet, erläutert, beschworen, informiert, durchgekaut, wiederholt, geredet, gesprochen, geschrieben, getippt, gelesen, geschaut. Was bringt’s?
Weiße Ohrstöpsel, die abgebrochenen Zahnbürsten ähneln, sind das eine vorherrschende Merkmal einer gewissen Kohorte, Tätowierungen sind das andere. Oft kombiniert. Auch hier stellt sich dem interessierten Betrachter die Frage: Was bringt’s? Cui bono?
Eine Stunde am Nachmittag.
Gesessen, geschaut, geschrieben, gewundert und sich selbst Fragen gestellt.
In Siemensstadt.
In Berlin.
In Deutschland.
2025.
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