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Kalsarikännit

Draußen, vor der Scheibe, zieht das Leben vorbei. Du schaust hinaus in die Landschaft und denkst, dass du eigentlich mal zusammen rechnen müsstest, wieviel Stunden Lebenszeit schon so vergangenen sind, im Zug, im Auto, auf dem Weg zu Terminen oder zum Job. So viel Zeit, in der man etwas schöneres, angenehmeres hätte unternehmen können. Du siehst die Sonne untergehen.  Rötliche Kondensstreifen am abendlich bläulichen Himmel  deuten auf regen Luftverkehr hin, es ist Ferienzeit und Hinzundkunz muss nach Malle. Propere aufgeräumte Städtchen und Dörfchen sausen an dir vorbei. Du siehst Menschen im Garten sitzen, entspannt den Abend genießen, während du mit 240 durch die Tundra saust. 

Gut, du kannst die Zeit nutzen, du kannst lesen, nimmst dir vielleicht eine Zeitung oder surfst im Netz, wenn das Netz mal gerade stabil ist im High-Tec Land Germany. Lesen kann dann auch mal ganz informativ sein, quasi Weiterbildung umsonst. Zauberhafte kleine Fundstücke blättern vielleicht an dir vorbei. 

Du hättest voraussichtlich sonst nie erfahren, dass die finnische Sprache allerlei Kapriolen auf Lager hat. So wäre zum Beispiel schöne Wort KALSARIKÄNNIT dir wahrscheinlich auf immer verborgen geblieben. Was das Wort bedeutet, willst Du wissen? Nun, die Finnen beschreiben damit den eigentümlichen Umstand, "sich in Unterhosen daheim alleine zu betrinken". Echt lustig, sind sie, die Finnen und offensichtlich durstig. Durstig auf Alkohol, vielleicht weil die lange Dunkelheit an ihren Nerven zerrt. Wie anders wäre eine weitere finnische Weisheit zu erklären, die dir beim Weiterblättern ins Auge fällt; "Man ist nicht betrunken, solange man auf dem Boden liegen kann, ohne sich festzuhalten!" Trinken scheint ein Volkssport zu sein in Finnland. 

Was ist aber Volkssport hierzulande, im Land, das sich früher mal als das "Land der Dichter und Denker" rühmen ließ? Manchmal kommt es dir vielleicht auch so vor, dass heutzutage eher wieder die schlechtesten aller menschliche Triebe Oberhand gewinnen und das "Land der Richter und Henker" wieder fröhliche Urständ feiert. Widerliche Plattitüden, böse Nachreden, üble Diffamierungen, bewusste Verdrehungen, lautstarker Krawall - die Straßen, das Internet, die Stammtische sind voll davon. Hassreden -  ein deutscher Volkssport? Vielleicht nicht. Vielleicht sind die Vernünftigen, die Nachdenklichen, die konstruktiv kritischen Landsleute nur zu leise. Es ist einerseits verständlich, dass man sich nicht mit den Krawall-Proleten auf offener Bühne anlegen will. Man weiß ja nie, was hinter der nächsten Ecke passieren könnte. Aber somit wird auch den Schmalspurintellektuellen und Schreihälsen zu viel Raum gelassen und zu viel Beachtung geschenkt. Klar, solange sie nur Witze machen, die Amnesie-Ossis und Raffgier-Wessis, solange schießen sie nicht und hauen keine Fremden. Aber oft genug ist es kurz davor und kommt auch viel zu oft vor. 

Vielleicht wäre mal ein anderes Volkssport-Projekt angesagt: Deutsche lernen wieder Respekt und Anstand, Rücksichtnahme und vor allem eine alte Tugend: Nachdenken, bevor man redet. Das würde viel helfen und so manches Gespräch entgiften. Im Verein, im Parlament, im TV, auf dem Sportplatz.

Es muss etwas geschehen in diese Richtung. Ansonsten wird's dunkel. Und dann bleibt wirklich nur noch das finnische: KALSARIKÄNNIT. 

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Kommentare: 1
  • #1

    Gabriele Herwartz-Emden (Donnerstag, 29 September 2022 05:50)

    So wahr, so gekonnt, sehr sehr pointiert.